Warum E.T.A. Hoffmann lesen?

„Wer wagt, durch das Reich der Träume zu schreiten, gelangt zur Wahrheit.“

30. 6. 2022 Richard Guniš

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Meine im Deutschland lebende Nichte erzählte mir, dass sie in der Schule E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi lesen mussten. Und, fragte ich begeistert, weil ich nicht nur den Autor, sondern besonders die erwähnte Novelle liebe. Sie hatte in ihrem Leben nichts Langweiligeres gelesen, war die Antwort. Ich musste mir in die Zunge beißen, um nicht laut auszurufen: „Was, unmöglich, wie kann dir so ein spannender Text nicht gefallen? Die ganze Stadt Paris in Massenhysterie, die beiden Mächte die die Dynamik vorantreiben, der Serienmörder und der Staatsapparat mit dem König an der Spitze und der geheimnisvollen Chambre ardente an der Seite, die in ihrer Anonymität dem Serienmörder am Schrecken in nichts nachsteht, das Maus und Katze Spiel, der falsch Beschuldigte, die Auflösung…“ Ich musste mir erneut in die Zunge beißen und stammelte was von Verständnis und vom alten Text. Seitdem geht mir durch die Frage durch den Kopf: „Ja warum denn sollte man E.T.A. Hoffmann lesen?“ Ich will aufgrund zweier Texte, die an entgegensetzten Polen Hoffmanns Leben und Schreiben stehen, diese Frage beantworten. Gleichzeitig versuchen diese zwei ausgewählten Werke das Zitat am Anfang des Textes zu beleuchten.

Ritter Gluck

Die erste Erzählung, Ritter Gluck, erschienen im Jahre 1809, steht am Anfang Hoffmanns Schaffen als Schriftsteller, obwohl er zu der Zeit bereits das dreißigste Lebensjahr überschritten hat. Sie wurde später in die Phantasiestücke nach Callots Manier 1814 aufgenommen und genau das ist diese Erzählung. Eine freie Phantasie, ein musikalisches Stück in Worten, von einem, dem gerade die eigene Musikproduktion stockt. Und der Inhalt der Erzählung? Schnell erzählt. Ein Erzähler trifft im Berliner Café auf einen besonderen Charakter und nachdem sie sich mehrmals trennen und wiedertreffen, gibt er sich, im dramatischen Kerzenschein, als Ritter Gluck zu erkennen, verstehe Christoph Willibald Gluck, der 1787 verstorbene Komponist. Die Erzählung ist aber ausdrücklich im Untertitel als Erinnerung aus dem Jahre 1809 gekennzeichnet, das heißt, Gluck ist bereits seit über zwanzig Jahren tot. Die Erzählung endet abrupt, keine weitere Erklärung, kein Nachtrag. Dazwischen Gespräche über den Zauber der Musik und der Kunst, gekleidet in eine an blumigen Metaphern reiche Sprache. Nichts, was meine Nichte von der Überzeugung wegbringen könnte, Hoffmann sei ein Langweiler.

Während meines eigenen Germanistikstudiums und in vielen Interpretationen wird immer wieder gestritten: ist es Gluck, ist es ein Verrückter? Diese Frage hat mich nie interessiert, ich will mich in diesem Text hauptsächlich nur dem ersten Absatz der Erzählung widmen. Ich habe mir den Anfang immer wieder als ein Gemälde vorgestellt, ein Gemälde aus der Vogelperspektive. Wir befinden uns in Berlin, Jahr 1809, Spätherbst, eine Masse an Menschen verschiedener sozialer Klassen spaziert zwischen Unter den Linden und dem Tiergarten, genießt die letzten schönen Tage. Hier geht das gefrorene Gemälde in einen Film über, wir gleiten langsam und zoomen näher und näher an eins der Cafés, besser gesagt an die paar Gartenstühle und runden Tische vor dem Café, an die sich die spazierende Masse schmiegt. Wir zoomen noch näher, an eines dieser Stühle und Tische, an einen Mann, wir hören jetzt auch die Geräusche der Menschen, die Gespräche und Musik, ein kleines Musikensemble spielt für die Gäste des Cafés Unterhaltungsmusik. Wir zoomen ganz nah an das Gesicht des Mannes, an seine geschlossenen Augen, die sich auftun, wir weichen wieder zurück und merken plötzlich, dass inzwischen noch jemand anderer am Tisch sitzt, wo vorher niemand war. Hier bleiben wir, die zwei Gäste, die seltsam steinern wirken vor dem Hintergrund der Menschen hinter ihnen, die so dicht an dicht spazieren, dass wir nur einen beweglichen Knäuel an Armen, Beinen, Köpfen und Hüten ausmachen können. Dann beginnen sie zu sprechen.
Hier endete für mich die Erzählung. Nicht dass ich aufgehört hätte zu lesen, dafür war die Neugierde zu groß, was es sich mit diesem geheimnisvollen Gast auf sich hat, doch blieb mir immer dieses Bild vor Augen, wenn ich mich an die Erzählung erinnert habe. Das Bild dieser zwei Männer am Tisch und hinter ihnen diese bewegliche Kulisse von Menschen. Eigentlich ist dieses Heranzoomen an den Erzähler im Café die einzige Bewegung, das Herauszoomen ist trügerisch, es findet nicht statt, wir gehen tiefer in den Erzähler rein und beginnen von Neuem: die Vogelperspektive, die Annäherung, die Erscheinung des anderen Gastes, das Gespräch, dass nur dazu führt, dass wir weiter in den namenslosen Gast heranzoomen, in seine phantastische Welt aus Musik, Blumen, pathetischen Gesten und unverständlichen Worten bis zu seiner Erkennung. In dieser phantastischen Welt spielt sich die Handlung der Erzählung ab. Die beiden machen keine Spaziergänge, sie trennen sich nicht und treffen sich wieder zufällig, das wäre ja das phantastischste an der Geschichte, dass sich beide Charaktere in der Großstadt Berlin zweimal zufällig treffen, nein, sie sitzen die ganze Zeit vor dem Café und die Menschen ziehen an ihnen vorbei. Und die schockierende Enthüllung am Ende, der keine Erklärung folgt? Alles verraten im ersten Absatz, sogar zweimal: „…da setze ich mich hin, dem leichten Spiel meiner Phantasie mich überlassend, die mir befreundete Gestalten zuführt, mit denen ich über Wissenschaft, über Kunst, über alles, was dem Menschen am teuersten sein soll, spreche.“ und gleich im nächsten Satz: „Immer bunter und bunter wogt die Masse der Spaziergänger bei mir vorüber, aber nichts stört mich, nichts kann meine phantastische Gesellschaft verscheuchen.“ Zweimal nichts, das ist schon mal ein klares Statement. Nichts kann die phantastische Gesellschaft verscheuchen, nicht einmal die Großstadtmasse Berlin. Nichts kann das Reich der Träume verscheuchen, doch wie wir wissen, ist dieses Reich von verschiedenen Kreaturen bewohnt, nicht immer wohlwollend. Zweimal muss sich Ritter Gluck in seiner Beschreibung unterbrechen, weil die Begeisterung und das tiefe Wühlen im Traumreich in Depression und Flucht endet. Das alles, das Zusammentreffen, Aufbrechen, Flucht, wiederholtes Treffen, wiederholte Flucht, wiederholtes Treffen geschieht am unbeweglichen Cafétisch, im Erzähler, an dem die Stadt vorbeizieht.

Des Vetters Eckfenster

Ich setzte mich, dem Vetter gegenüber, auf ein kleines Taburett, das gerade noch im Fensterraum Platz hatte. Der Anblick war in der Tat seltsam und überraschend. Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so daß man glauben mußte, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sonnenschein, und zwar in ganz kleinen Flecken, auf mich machte dies den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets, und ich mußte mir gestehen, daß der Anblick zwar recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei, ja wohl gar aufgereizten Personen einen kleinen Schwindel verursachen könne, der dem nicht unangenehmen Delirieren des nahenden Traums gliche; darin suchte ich das Vergnügen, das das Eckfenster dem Vetter gewähre, und äußerte ihm dieses ganz unverhohlen.

Dies ist ein Ausschnitt aus Hoffmanns letzter Erzählung Des Vetters Eckfenster. Erschienen im Jahre 1822, zwei Monate vor Hoffmanns Tod. Auch hier ist der Inhalt schnell erzählt. Der Erzähler trifft sich mit seinem Vetter, der von seinem Fenster aus den Markt beobachtet. Die beiden Charaktere im Fensterrahmen bilden sozusagen die Rahmenhandlung, die eigentliche Handlung besorgt das Markttreiben. Dennoch sind sie es, hauptsächlich der Vetter, die durch das Beobachten und die Personenauswahl die Handlung organisieren. Es ist ein dialogischer Text, aber im Gegensatz zu Ritter Gluck ist hier der Dialog noch nachdrücklich hervorgehoben. Wir wissen, durch die Bezeichnung Ich und Vetter am Anfang jeder Rede, wer spricht. Dies gibt dem Text etwas Plauderndes, wie ein Konversationsstück am Theater. Weit entfernt von dem gehetzten und meist eintönigen Gespräch in Ritter Gluck, in dem die titelgebende Gestalt meistens das Wort hielt. Aber auch hier kann von keiner Flucht die Rede sein, der Vetter ist nämlich immobil.
Während wir uns aber im Ritter Gluck an den Erzähler, der am Cafétisch sitzt, annähern, um bei ihm und seiner phantastischen Gesellschaft zu verweilen, nähern wir uns im Des Vetters Eckfenster zusammen mit dem Erzähler an seinen Vetter. Der Erzähler schält sich am Markttag aus der Masse an Menschen raus, um zusammen mit dem Vetter wieder auf diese Masse zu blicken. Alles an dieser Erzählung ist eine Übung im Schauen.
Während im Ritter Gluck die vorbeiziehende Masse als Kulisse für die Erzählung diente, ist diese Masse hier die Erzählung. Das Knäuel an Beinen, Händen, Hüten und Kleidern gleitet sich in Individuen.
Während im Ritter Gluck der Erzähler sich durch seine phantastische Gesellschaft von der umgebenden Gesellschaft abschottet, ohne aber auf den Komfort eines Großstadtlebens zu verzichten, lernt in Des Vetters Eckfenster der Erzähler durch den Umgang mit seinem kranken Vetter, der unfreiwillig abgeschottet ist und auf den Komfort eines aktiven Großstadtlebens verzichten muss, auf die Gesellschaft neu zu blicken. Und der Vetter, der dieses Schauen auch lernen musste, ist durch dieses neuerworbene Wissen und auch durch die Möglichkeit, dieses Wissen zu vermitteln, belebt und durch den neugewonnen Appetit wieder ein Teil der Menschengesellschaft. Man kann sagen, er ist unter die Lebenden zurückgekehrt, etwas was man vom “steinernen Gast“ mit seinem Degen und romantischem Gehabe im Ritter Gluck nicht sagen kann. Es geht etwas zutiefst Vitales und Belebendes von diesen zwei Figuren in Des Vetters Eckfenster aus.

Fazit

Wer wagt, durch das Reich der Träume zu schreiten, gelangt zur Wahrheit.“

Zum Schluss und nochmals zur Erinnerung das dem Text vorangegangene Zitat. Die Wagnis durch das Reich der Träume zu schreiten ist allen Figuren Hoffmanns gleich. Der Vetter bildet da keine Ausnahme. Im Auszug sagt ihm der Gast, dass wahrscheinlich das nicht unangenehme Delirieren eines nahenden Traumes der Grund ist, weswegen ihn der Anblick des Markttreibens so fesselt. Dies entspräche dem Treiben im Ritter Gluck, wo die spazierende Berliner Masse nur den Grundton abgibt für die phantastische Improvisation, die sich dann zwischen dem Erzähler und Ritter Gluck abspielt. Der Vetter aber verteidigt sich gegen diese Behauptung und strukturiert die Marktmasse in einzelne Menschen und ihre Geschichten.
Was ist aber die Wahrheit, nachdem man das Reich der Träume durchschreitet? Der geheimnisvolle Charakter im Ritter Gluck scheint im Reich der Träume gefangen zu sein und muss das öde Berlin wiederholt durchschreiten und nach verträumten Gestalten im Cafés suchen, an denen er sich festzapft. Der Erzähler wieder beschwört diese phantastische Gesellschaft und darf sich daher nicht wundern, wieso er wiederholt auf sie trifft.
Der Vetter wiederrum kann, wegen seiner Krankheit, gar nicht anders als sich in seinem Zimmer der phantastischen Gesellschaft seiner Kunst hinzugeben. Diese aber erfüllt ihn nicht, besser gesagt, sie fordert, aber gibt wenig zurück. Die Gesellschaft, die für den Erzähler im Ritter Gluck zum Anfassen nah war, ist für den Vetter unerreichbar geworden. Er kann sie nur aus der Ferne beobachten. Das ist schon mal ein Genuss, ein Genuss, der ihn nach langer Zeit sättigt und dafür sorgt, dass er sich auch selber sättigt.
Das wahre Wunder ist, aber diesen Genuss mit jemanden zu teilen. Da kommt der Erzähler in Des Vetters Eckfenster ins Spiel. Anders als der geheimnisvolle Charakter in Ritter Gluck, der ein Teil der phantastischen Gesellschaft ist, die man nicht verscheuchen kann, die aber trotzdem immer wieder flieht, ist das Gespräch zwischen Erzähler und Vetter spielerisch und frei, ein Hin und Her, im Gegensatz zum wahnhaften Selbstgespräch des “Ritter Gluck“.
Was ist also die Wahrheit, nachdem man gewagt hat, das Reich der Träume durchzuschreiten? Es ist das phantastischste von allem: die Realität.


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