Unerhörte Verbindungen zwischen ukrainischer und deutscher Literatur: Entschlüsselung des Geheimnisses

4. 4. 2023 Anastasiia Kravchenko

Unerhörte Verbindungen zwischen ukrainischer und deutscher Literatur: Entschlüsselung des Geheimnisses

von Anastasia Krawtschenko

Sind Sie daran interessiert, Geheimnisse zu lüften, meine lieben Leserinnen und Leser? Wenn Sie diese bizarre Frage positiv beantwortet haben, dann ist heute vielleicht Ihr Glückstag.

Machen Sie es sich vor einem imaginären Kamin gemütlich, schnappen Sie sich eine Tasse heißen englischen Tee und vergessen Sie auf keinen Fall ein Notizbuch mit einem Stift, um das Wichtigste aufzuschreiben. Ich bin sicher, Sie wollen unseren alten Onkel Sherlock Holmes nicht enttäuschen. Nachdem wir alle nötige Ausrüstung vorbereitet haben, können wir endlich mit unserem Fall beginnen.

Die Fallbeschreibung

Da die Ukraine derzeit mit schrecklichen Herausforderungen konfrontiert ist, richtet sich der Blick der Welt mit einer neuen Intensität auf diese Nation. Ins globale Rampenlicht gerückt, wurde die ukrainische Kultur im Ausland auf eine Weise anerkannt wie nie zuvor. Kunstausstellungen, Musikkonzerte, literarische Abende: Sie alle erschienen nacheinander in der Hoffnung, Licht in die lange verborgene ukrainische Kultur zu bringen – eine Kultur, die für viele zuvor unbekannt war. Jahrhundertelang vernachlässigt, würdigt das weltweite Bewusstsein endlich das ukrainische Kulturerbe – doch nur wenigen ist bewusst, dass ihr literarisches Patrimonium viel komplizierter ist, als es scheint.

Aber was hat diese Tatsache mit der deutschen Literatur und ihrer berühmten Kultur zu tun? Elementares, mein lieber Leser. Elementares.

Unter den Einflüssen, die sich in der Ukraine kreuzten und sich auf das materielle und geistige Leben des ukrainischen Volkes auswirkten, war seit der Antike der Einfluss der deutschen Umgebung von großer Bedeutung. Er lässt sich sowohl in der ukrainischen Sprache nachvollziehen, die zum Teil deutschen Wortschatz übernommen hat, als auch im Recht – erinnern wir uns an die alte „Russkaja Prawda“ von Jaroslaw dem Weisen, die mittelalterlichen deutschen Rechtssammlungen sehr ähnlich ist. Es versteht sich von selbst, dass sich diese Einflüsse auch in der ukrainischen Literatur widerspiegeln mussten.

Um diese Angelegenheit besser zu verstehen, empfehle ich Ihnen, im gesamten Artikel auf dieselben fünf Fragewörter zu achten, die von jedem guten Detektiv verwendet werden:

Wer? Wo? Wenn? Warum? Wie?

Was uns jedoch von Detektiven wie Sherlock Holmes, Miss Marple oder Encyclopedia Brown unterscheidet, ist, dass wir nicht gezwungen sind, mit einer riesigen Lupe herumzulaufen oder einen Forensik-Koffer zu verwenden, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Stattdessen lade ich Sie ein, sich einerseits kurz mit dem Einfluss der deutschen Kultur auf die ukrainische Literatur anhand vergangener Jahrhunderte vertraut zu machen und andererseits die intertextuellen Bezüge in deutschen und ukrainischen Literaturwerken eigenständig zu beobachten. Lassen Sie uns anfangen.

Die Rückblende: Verbindungen der ukrainischen Literatur mit der deutschen

Kultur

Es sei darauf hingewiesen, dass die Anfänge des ukrainischen Drucks bereits mit dem deutschen Buchdruck verbunden sind: Die ersten kyrillischen Kirchenbücher, die für den Gebrauch auf ukrainischem Boden bestimmt waren, wurden 1491 in Krakau von der Druckerei des deutschen Schweipolt Fiol herausgegeben.

Genau im 15. Jahrhundert gingen viele Ukrainer zur Hochschulbildung ins Ausland, hauptsächlich ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation, von wo sie mit neuen Konzepten, Ansichten und Gewohnheiten zurückkehrten. Umgekehrt kamen zahlreiche Menschen aller Art – Handwerker, Kaufleute, Wissenschaftler –aus dem Römisch-Deutschen Reich in die damalige Ukraine, um nicht nur die ukrainische Intelligenz zu stärken, sondern auch der dortigen Bildungsschicht Perspektiven zu geben.

In Anbetracht des Vorstehenden sind die folgenden prominenten Ukrainer zu erwähnen, die im 17-18. Jahrhundert stark vom Alten Reich beeinflusst wurden: Einerseits der hervorragende Prediger und Schriftsteller Theophan Prokopowitsch (von Buddei und Pufendorf) und andererseits der berühmte ukrainische Philosoph Gregorius Skoworoda, dessen Name auch in der deutschen philosophischen Literatur bekannt ist.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach den napoleonischen Kriegen, war die Ukraine stark vom politischen Gedankengut des deutschen Tugendbundes geprägt. Damals spielte die deutsche Literatur eine große Rolle beim spirituellen Erwachen der ukrainischen Intelligenz und veranlasste sie, sich mit Volkskunst zu beschäftigen, sie zu erforschen und zu studieren.

Dies führte zur Wiederbelebung der ukrainischen Literatur und anschließend zur Schaffung einer eigenen Literaturwissenschaft. Der Einfluss von Herder, Lessing, den Grimms, Goethe, Schiller und anderen deutschen Wissenschaftlern und Schriftstellern hatte einen bedeutenden Anteil an diesem neuen Erwachen des ukrainischen Nationalbewusstseins.

Dieses Phänomen zeigt sich im literarischen Nachlass von Makarowskyj, dessen Gedichte „Natalja“ und „Garaschko“ auf Goethes Epos „Hermann und Dorothea“ basieren. Als weiteres Beispiel dient die Ballade „Marusja“ von Borowykowskyj, das seine Wurzeln in Bürgers Gedicht „Lenore“ findet. Und nicht zu vergessen das literarische Erbe von Hulak-Artemowskyj, der sich beispielsweise von Goethes „Der Fischer“ inspirieren ließ und diese Ballade konsequent künstlerisch ukrainisierte.

Die deutsche Literatur hatte einen großen direkten Einfluss auf den prominenten ukrainischen Schriftsteller der Schewtschenko-Ära, nämlich Pantelejmon Kulisch, der der ukrainischen Literatur eine ganze Reihe von Gedichten von Goethe, Schiller und Uhland zuschrieb. Diese Übersetzungen, oder besser gesagt Neubesingungen, veröffentlichte er in der Sammlung „Pozytschena Kobza“ mit einem eigenen Vorwort in Versen unter dem Titel „Ein Wort an die Deutschen“. An die Deutschen gerichtet, sagt er darin:

 „Bitte leihen Sie uns eine herrliche Kobza:

Ihr dünnes Ohr wird sie nicht quälen.

Lassen Sie uns auch Ihre hohen Töne nehmen,

Kann sein werden Millionen in unseren Herzen gehört

Zur lauten Stimme der großen Kobzaren.

Zu Ihrer Sprache und den Verstand der Könige!“

Doch dies waren nur die ersten Schritte…

Um Sie, meine lieben Literaturdetektive, nicht mit so vielen Einzelheiten zu langweilen, lassen Sie uns zum praktischen Teil unserer heutigen Untersuchung übergehen.

Erster Beweis: Iwan FrankosLys Mykyta“ & GoethesReineke Fuchs

Der bekannte ukrainische Dichter, Prosaist und Dramatiker aus Galizien Iwan Franko leistete hervorragende Arbeit, um seine Landsleute mit deutscher Literatur, Kultur und Wissenschaft vertraut zu machen. Er veröffentlichte eine Reihe von Artikeln und Reportagen über deutsche Schriftsteller wie Goethe, Hauptmann, Goltz, Zudermann, Kleist, Liliencron, Mayer oder Schiller. Darüber hinaus übersetzte er zahlreiche Werke deutscher Dichter – Freiligrath, Herweg, Goethe, Keller, Kleist, Lessing, Liliencron, Mayer, Schiller, Aue – sowie altdeutsche Poeten und deutsche Volkslieder.

Im Gegenteil, Franko hat seinerseits viel unternommen, um die Deutschen über die ukrainische Literatur aufzuklären, sowohl mit seinen allgemeinen Rezensionen als auch mit Artikeln über einzelne Schriftsteller (Schewtschenko) und Übersetzungen ukrainischer Poesie und Prosa (Schewtschenko, Stefanyk). Franko war vor allem in seinen Texten von der deutschen Lyrik beeinflusst. In seiner Jugend bewunderte er die deutsche Romantik und schrieb unter ihrem Einfluss – insbesondere dem von Hoffman. Er selbst gibt zu, dass er in seiner ersten Erzählung „Petriji und Dowbuschuky“ seine Arbeit nachgeahmt hat.

Zu den berühmtesten Werken von Iwan Franko gehört sein Märchengedicht „Lys Mykyta“ – ein Werk, das für seine Bidirektionalität und semantische Dualität bekannt ist. Diese Versgeschichte wird auf zwei verschiedenen Ebenen gelesen: Auf der Ebene der Handlungswechsel wird der Text als spannende Geschichte über die Abenteuer des listigen Fuchses wahrgenommen, auf der Ebene des vom Autor angelegten Subtextes als scharf satirischer Pathos. Dabei ist die Satire hier nicht nur individuell, moralisch-psychologisch, auf die Charakter- und Verhaltensfehler bestimmter Gesellschaftstypen gerichtet, sondern auch gesellschaftspolitisch.

Doch nur wenige wissen, dass „Lys Mykyta“ ein Original-Autorenmärchen ist, geschrieben mittels ausgeliehener Handlung von Johann-Wolfgang Goethes Gedicht „Reineke Fuchs“, das wiederum eine Überarbeitung altdeutscher Geschichten über einen listigen Fuchs ist. In seiner kreativen Arbeit stützte sich Franko auf die folkloristische und literarische Tradition der Aufnahme von Reise- oder Leihgeschichten, die darin besteht, dem Märchen eines anderen einen eigenen nationalen Geschmack zu verleihen und es zum eigenen Volksgut zu machen.

Obwohl es sich bei diesen beiden Werken hauptsächlich um Gesellschaftssatiren handelt, in denen der Schlingel, der alle Tiere hinters Licht führt, im letzten Moment der verdienten Strafe entkommt, ähneln sich diese beiden Werke nur im Haupthandlungsschema. In Goethes Gedicht gibt es viele Handlungsverbindungen, die in "Lys Mykyta" vollständig fehlen, und im Gegenteil, der ukrainische Schriftsteller entwickelt die Handlung seines Werkes in vielen Fällen auf Kosten alter Märchenschätze der ukrainischen Folklore.

Aber das hindert uns Literaturdetektive nicht daran, Spuren von Intertextualität zwischen diesen beiden Werken zu bemerken. Interessant ist, dass Iwan Franko im Nachwort zur zweiten Auflage des Gedichts mit dem Titel „Wer ist Lys Mykyta und woher kommt er?“ selbst die Migrationswege von Märchenmotiven und Märchenhandlungen beschrieben und auch die wichtigsten Arbeiten, die vom listigen Fuchs erzählen, aufgezeigt hat:

die lateinische Erzählung Ecbasis captivi (940, unbekannt)

die lateinische Dichtung Isengrimmusvon Nivardus (1148-1149)

die altfranzösische Fabelnsammlung „Le Roman du Renart“ (1170, unbekannt)

das niederländische Gedicht „Reinaert“ von Willem (1250)

der altdeutsche Prosaroman „Reinke“, der von J.-W. Goethe überarbeitet und unter dem Namen „Reineke Fuchs“ veröffentlicht wurde (1794)

die ukrainische Volksmärchen „Schwesterchen Füchsin“, „Schwesterchen Füchsin und Bruder Wolf“, „Die Füchsin, der Kater und der Hahn“, „Der arme Wolf“ usw.

das ukrainische Märchengedicht „Lys Mykyta“ von Iwan Franko (1891)

Ist das nicht amüsant? Nun, wenn Sie noch Tee in Ihrer Tasse haben, schauen wir uns ein weiteres Beispiel an, das besonders die weibliche Seite unseres Publikums fesseln wird.

Zweiter Beweis: Olha KobyljanskasZarjiwna“ & Eugenie MarlittsGoldelse

Hinsichtlich des schöpferischen Erbes ukrainischer Schriftsteller und Dichter in der Bukowina ist anzumerken, dass der Einfluss der deutschen Kultur hier noch größer war. Die deutsche Sprache herrschte in der Bukowina viel länger als in Galizien, weil sie zur zweiten Alltagssprache der ukrainischen Intelligenz wurde. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die prominentesten ukrainisch-bukowinischen Schriftsteller, die schon früh mit der deutschen Literatur vertraut waren, zuerst auf Deutsch zu schreiben begannen.

Auf diese Weise schrieb beispielsweise die herausragende ukrainische Schriftstellerin und Romancierin Olha Kobyljanska ihre ersten Originalwerke, die sie nur später ukrainianisierte („Valse mélancholique“, „Impromptu fantasie“, „Die Natur“). Und im Gegenteil, sie übersetzte viele ihrer ukrainischen Originalwerke ins Deutsche und veröffentlichte sie in verschiedenen deutschen Zeitschriften. Eines der Hauptthemen im Werk von Kobyljanska war die Darstellung eines neuen Typs von Frauen, die darum kämpfen, sich in Kultur und Gesellschaft zu verwirklichen. Die Figuren der temperamentvollen Frauen in ihren Romanen sind zweifellos von Nietzsches Philosophie inspiriert.

Ihre Heldinnen sind laut vielen Literaturexperten Europäerinnen mit ukrainischer Mentalität. Kobyljanska machte sich durch die Bekanntschaft mit dem westeuropäischen Kulturumfeld mit den Ideen der Gleichstellung von Frauen und Männern in sozialer und kultureller Hinsicht vertraut. Wie die Autorin selbst in ihren Biographien anmerkt, wurde ihr Frühwerk stark von der deutschen Schriftstellerin Eugenie Marlitt beeinflusst. Sie bewunderte die Frauenfiguren dieser deutschen Romanschriftstellerin, in der sie ihren Prototypeninnen sah.

Mit spannenden Geschichten und filigraner Komposition setzten sich deutsche und ukrainische Schriftstellerinnen in ihren Werken für die Emanzipation der Frauen ein. Ihre Heldinnen sind talentierte, hochmoralische und stolze Damen, die sich von ihrer gewohnten Umgebung stark unterscheiden und aktiv am Leben teilnehmen wollen. Alle diese Frauen sind edel und unbezwingbar, sie sind schwer zu erobern, ihre Schönheit offenbart sich nur subtilen Ästheten. Es sind diese intertextuellen Parallelen, die zwischen Marlitts „Goldelse“ und Kobyljanskas „Zarjiwna“ zu erkennen sind.

Interessanterweise handelt es sich bei den Handlungen in beiden Werken um unterschiedliche Versionen des Volksmärchens „Aschenputtel“. Marlitt und Kobyljanska haben doch einen neuen Frauentyp geschaffen, der anders als das märchenhafte Aschenputtel nicht auf Geschenke einer Fee oder des Schicksals wartet, sondern versucht, sich ein eigenes Leben aufzubauen, sich für die Gleichberechtigung mit Männern einsetzt und ihre Menschenwürde und Ehre schützt.

Was die Intertextualität betrifft, so war die Handlung von Aschenputtel im 19. Jahrhundert in Westeuropa weit verbreitet. Der „klassische“ Roman dieses Genres war der Roman „Jane Eyre“ von Charlotte Brontë – ein autobiografischer Roman der englischen Schriftstellerin, der in Westeuropa große Popularität erlangte und 1848 ins Deutsche übersetzt wurde. Doch nur wenige wissen, dass seine Wurzeln bis in die ferne Antike zurückreichen:

die altägyptische Sage „Rhodopis“ von Strabon (7 v. Chr. – 24 n. Chr.)

die altgriechische Geschichte Aspasia of Phocaea von Aelianus (175 – 235)

das chinesische Märchen Ye Xianvon Duan Chengshi (850)

das anglonormannische Gedicht „Le Fresne“ von Marie de France (12. Jh.)

das italienische Märchen La gatta Cenerentola von Giambattista Basile (1634)

das französische Märchen „Cendrillon ou la petite pantoufle de verre“ von Charles Perrault (1697)

das deutsche Märchen der Gebrüder Grimm «Aschenputtel» (1812)

der englische Roman von Charlotte Brontë «Jane Eyre» (1847)

der deutsche Roman von Eugenie Marlitt „Goldelse“ (1866)

die ukrainische Novelle von Olha Kobyljanska „Zarjiwna“ (1896)

Der Abschluss des Falles

Das war es, meine lieben Leserinnen und Leser. Sie haben diesen langen Artikel erfolgreich überstanden und höchstwahrscheinlich bereits den letzten Schluck Tee getrunken, aber ich hoffe, dass Sie statt Müdigkeit einen Moment der Belustigung erleben.

Die Beobachtung von Verbindungen zwischen Literaturen aus verschiedenen Ländern mag wie ein komplexer Kriminalroman erscheinen, mit vielen Drehungen und Wendungen und Überraschungen... in einer fremden Sprache geschrieben... sogar mit ein paar fehlenden Seiten. Aber wenn Sie dieses kleine Rätsel erst einmal gelöst haben, werden Sie den gegenseitigen Einfluss verschiedener Kulturen auf die Weltliteratur besser anerkennen.

Jede Nation, die ihre eigene nationale Kultur hervorbringt, leistet damit einen Beitrag zur Weltkultur. Als Ergebnis einer solchen Kommunikation findet eine gegenseitige kulturelle Bereicherung statt, wodurch verschiedene Kulturen vielfältiger werden. Die Wechselbeziehung zwischen ukrainischer und deutscher Literatur ist keine Ausnahme. Beide sind Teile der Weltkultur, die ihrerseits als globales Phänomen dient. Und beide sind auf ihre Weise einzigartig. Ich kann Ihnen nur empfehlen, die Literatur dieser beiden Nationen zu lesen – Sie werden es nicht bereuen.

„Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat,

ist die der Bücher die Gewaltigste.“

Heinrich Heine

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